Falsche Richtung
Es war so einiges neu im Jahr 2020.
So auch, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte 100 Milliarden Tonnen Material1 durch die Weltwirtschaft bewegten. Gleich blieb dabei, dass verbrauchte Materialien zu einem überwältigenden Anteil ihr Produktlebensende sahen.
Im Jahr 2021 notierten die Autoren des Circularity Gap Reports (CGR), dass der Anteil geschlossener Materialkreisläufe in der Weltwirtschaft seit ihrem ersten Report im Jahr 2018 schrumpfte, von 9,1% auf 8,6%2.
Als würde nichts auf dem Spiel stehen, entfernen wir uns aktuell wieder von einer Circular Economy. Gleichzeitig sind Klimawandel, Klimaschutz und ein (be-)trügerisches Net Zero die Stichworte, die Türen öffnen, Regulationen inspirieren und Fördergelder fließen lassen.
Doch kein Klimaschutz ohne echte Kreislaufwirtschaft
Die Handhabung und Nutzung industrieller Materialien verursachen 70% des globalen Ausstoßes von Treibhausgasen3.
Was heißt das? Der Löwenanteil unserer Emissionen liegt in Prozessen, in denen Materie und Energie nicht getrennt voneinander zu denken sind – wo Materialien ineffizient über große Strecken transportiert werden, statt in lokalen Kreisläufen geführt.
Verändern wir diese Prozesse, so verändern wir unsere Energiebilanz und unseren ökologischen Fußabdruck.
Kurz gesagt: Kein Klimaschutz ohne echte Kreislaufwirtschaft.
Was also tun?
In einer linearen Wirtschaft laufen wir Gefahr, Ökosysteme irreparabel zu schädigen und uns damit selbst den Weg in eine gesunde Zukunft zu verstellen. Wir machen Ökonomie und Ökologie zu Gegenspielern, die am Ende beide verlieren.
Werden wir also weiterhin unter exponentiell steigendem Aufwand Tonne um Tonne immer ärmerer Erze abbauen und zu zunehmend unbezahlbaren Preisen handeln? Wo genau wird das enden?
Oder denken wir Wirtschaft neu, mit einer Infrastruktur für Rücknahme und Wiederverwertung, die wertvolle Rohstoffe schätzt und schützt, nur einen Bruchteil der eingesetzten Energie benötigt und unsere Müllmenge drastisch reduziert?
Offene Enden verknüpfen
Halbstarke Klimaschutz-Selbstverpflichtungen innerhalb einer linearen Wirtschaft erbringen nur einen Bruchteil dessen, was zu tun ist: Nach einer Schätzung der Autoren des CGR gehen aktuelle Regulationen ca. 15% des Weges4 hin zu echtem Klimaschutz und wahrer Nachhaltigkeit, auch COP26 als letzte internationale Klimakonferenz hat daran nichts verändert.
Und die restlichen 85%?
Die liegen zu einem Großteil in geschlossenen Kreisläufen: Verkürzte Transportwege für industrielle Güter, reduzierte Emissionen auf dem Weg zu einem klimapositiven Standard und das Ziel, Müll abzuschaffen … im Tausch gegen eine Fülle an wiedergewonnenen Rohstoffen.
Anders als gedacht: Echte Nachhaltigkeit als Kostenfaktor
Dass Nachhaltigkeit zu viel koste ist ein Argument, das mit jeder Preiserhöhung für immer knappere Rohstoffe weiter an Kraft verliert.
Im Gegenteil: Die Unternehmensberatung Roland Berger schätzt, dass innovative zirkuläre Geschäftsmodelle allein im Bausektor bis 2025 eine zusätzliche globale Marktchance von 600 Milliarden Euro5 schaffen werden, bei einer zweistelligen jährlichen Wachstumsrate.
Und Roland Berger ist nicht die einzige Agentur, die immense zirkuläre Potentiale ankündigt. Auch McKinsey schätzt:
Eine Circular Economy könnte bis 2030 einen wirtschaftlichen Nettogewinn von 1,8 Billionen Euro erbringen.
– The circular economy: Moving from theory to practice, McKinsey Report 20166
Und diese Schätzungen sind noch unvollständig: Der versteckte kollektive Gewinn durch die Vermeidung ökologischer Folgekosten ist noch nicht enthalten und die Kosten zirkulärer Lösungen werden in der Reifephase der Massenanwendung erneut sinken.
Wachsende Trends sind also bereits auf der Seite der Spieler, die offene Enden zu geschlossenen Kreisläufen verknüpfen.
Trendanalyse mit blindem Fleck
Möglicherweise sind die bisherigen Schätzungen noch zu konservativ. Die absolute Unvermeidlichkeit einer echten Kreislaufwirtschaft könnte in den nächsten Jahren ein exponentielles Muster in die Börsenbriefe zeichnen.
Doch wir irren immer wieder beim Versuch, exponentielle Entwicklungen zu erfassen. Gemessen an den Ergebnissen des CGR und dem vorläufigen Rückgang geschlossener Kreisläufe überschätzt Roland Berger die Entwicklung im Bausektor bis 2025 möglicherweise – doch setzt McKinsey den gesamtwirtschaftlichen Gewinn bis 2030 vielleicht noch zu niedrig an?
Der Druck aus unserem Lebensraum wird weiter steigen. Wer sich erst bewegt, wenn es nicht mehr anders geht, wird seine Chance auf eine Pioniersposition verpasst haben.
Das Zeitfenster für zirkuläre Erstanbietervorteile schließt sich
Geschlossene Kreisläufe dienen Umwelt, zukünftigen Generationen und den Umsatzzahlen zugleich. Einige Pioniere haben bereits verstanden.
Die Bayerische Ingenieurekammer-Bau definierte 12 Forderungen für einen nachhaltigen Bau7 und forderte darin Cradle to Cradle (C2C) als das Leitprinzip jedes Bauprojekts.
Pioniersprojekte wie FCRBE8 haben sich das Ziel gesetzt, die Rückführungsquote gebrauchter Bauteile im Raum Frankreich, Belgien und Großbritannien bis 2032 um 50% zu erhöhen.
Madaster9 und andere Spieler sind bereits dabei, Materialkataster für Gebäude als Rohstofflager und universelle Materialpässe im Bau zu etablieren.
Neben anderen Pionieren sind diese Spieler des Bausektors bereits auf dem Weg:
- Derix10 macht die Rücknahme gebrauchter Holzbauteile zum Unternehmensstandard
- Schüco11 hat bereits mehrere Produktsysteme auf C2C-Silber zertifiziert
- Würth12 hat ein ganzes Montageschienen-Sortiment vollständig auf C2C-Silber zertifiziert
- Godelmann13 hat seine komplette Produktpalette auf C2C-Gold zertifiziert und im Wassermanagement sogar Platin erreicht
- Baukom14 hat die ersten C2C-inspirierten Produktentwicklungen abgeschlossen und entwickelt effiziente Liefermethoden
Und es gibt Unterstützung von ganz oben:
- BMW15 hat begonnen, Kreisläufe zu schließen
- Amazon16 kooperiert mit McDonough & Partners
- BlackRock17 kooperiert mit der Ellen MacArthur Foundation
Scheinbar haben selbst Marktführer und Großinvestoren verstanden, dass die nächsten drei Monate maximalen Profits nichts bringen, wenn unvermeidliche Trends hin zur einer zukunftstauglichen Wirtschaft verpasst werden.
Evolutionärer Druck und die Unvermeidlichkeit des Wandels
Der Bausektor steht bereits unter spürbarem Druck, der Disruption begünstigt und zirkulären Lösungen schnell Marktanteile zuspielen kann.
Entweder schaffen wir die wirtschaftliche Transformation hin zu echten Kreisläufen oder wir gefährden unser Überleben als Spezies. Wir stehen hier vor echter Alternativlosigkeit, die zunehmend ökonomische und politische Entscheidungen beeinflussen wird.
Während Disruption lange Zeit vor allem dort stattfand, wo Materie zu Information werden konnte, so sind mittlerweile auch ältere, kapitalintensive und bisher wenig digitale Industrien zunehmend disruptionsgefährdet.
Wie lang noch?
Die Chancen auf ein ehrlich nachhaltiges Paradigma wachsen mit den wirtschaftlichen Vorteilen zirkulärer Lösungen.
Wie lang wird es dauern, bis eine lineare Wirtschaft unbezahlbar und das Potential zirkulärer Modelle unübersehbar wird?
Wie lang wird es dauern, bis zirkuläre Prinzipien als der Weg zu echtem Klimaschutz erkannt und durch internationale Regulationen plötzlich zu geltendem Gesetz werden?
Und wie lang eigentlich noch, bis clevere Unternehmer und Investoren aktiv derartige Regulationen antizipieren, um sicher auf die Zukunft positioniert zu sein?
Darum geht's im nächsten Artikel der Reihe.